Kinderkreuzzug 1939 ist der Titel eines Gedichts von Bertolt Brecht. Es beschreibt, wie eine Gruppe von Kindern, die beim Überfall auf Polen zu Kriegswaisen geworden sind, auf der Suche nach einem friedlichen Land durch das zerstörte Polen irrt, die Schrecken des Krieges erlebt und schließlich an Hunger und Kälte zugrunde geht.
Brecht schrieb Kinderkreuzzug 1939 im November 1941 im Exil in den USA, in die er im Juli desselben Jahres hatte einreisen können. Es erschien erstmals im Dezember 1942 in The German American. Brechts Literatur zu dieser Zeit war beeinflusst von Erfahrungen aus der Zeit des Exils in verschiedenen Ländern; so hatte er seine enge Mitarbeiterin und Liebhaberin Margarete Steffin in Moskau zurücklassen müssen, wo sie im Juni 1941 an Tuberkulose gestorben war. 1949 erschien „Kinderkreuzzug 1939“ in den Kalendergeschichten, Brechts erster Veröffentlichung in Deutschland nach seiner Rückkehr dorthin. Im Jahr 1951 veröffentlichte Brecht eine von 47 auf 35 Strophen gekürzte Fassung des Werks in der Sammlung Hundert Gedichte. Diese gekürzte Fassung widmete er Steffin.
In Polen, im Jahr Neunundreissig
In Polen, im Jahr Neunundreissig
War eine blutige Schlacht
Die hat viele Städte und Dörfer
Zu einer Wildnis gemacht.
Die Schwester verlor den Bruder
Die Frau den Mann im Heer;
Zwischen Feuer und Trümmerstätte
Fand das Kind die Eltern nicht mehr.
Aus Polen ist nichts mehr gekommen
Nicht Brief noch Zeitungsbericht
Doch in den östlichen Ländern
Läuft eine seltsame Geschicht'.
Schnee fiel, als man sich's erzählte
In einer östlichen Stadt
Von einem Kinderkreuzzug
Der in Polen begonnen hat.
Da trippelten Kinder hungernd
In Trüpplein hinab die Chausseen
Und nahmen mit sich andere, die
In zerschossenen Dörfern stehn.
Sie wollten entrinnen den Schlachten
Dem ganzen Nachtmahr
Und eines Tages kommen
In ein Land, wo Frieden war.
Da war ein kleiner Führer
Das hat sie aufgericht'.
Er hatte eine grosse Sorge:
Den Weg, den wusste er nicht.
Eine Elfjährige schleppte
Ein Kind von vier Jahr
Hatte alles für eine Mutter
Nur nicht ein Land, wo Frieden war.
Ein kleiner Jude marschierte im Trupp
Mit einem sammtenen Kragen
Der war das weisseste Brot gewohnt
Und hat sich gut geschlagen.
Und zwei Brüder kamen mit
Die waren grosse Strategen
Stürmten eine leere Bauernhütt
Und räumten sie nur vor dem Regen.
[Und]1 ging ein dünner Grauer mit
Hielt sich abseits in der Landschaft
[Er]2 trug an einer schrecklichen Schuld:
Er kam aus einer Nazigesandtschaft.
Da war unter ihnen ein Musiker
Der fand eine Trommel in einem zerschossenen Dorfladen
Und durfte sie nicht schlagen
Das hätt sie verraten.
Und da war ein Hund
Gefangen zum Schlachten
Mitgenommen als Esser
Weil sie's nicht übers Herz brachten.
Da war auch eine Schule
Und ein kleiner Lehrer für Kaligraphie
Und ein Schüler an einer zerschossenen Tankwand
Lernte schreiben bis zu FRIE4. . . .
Da war auch ein Konzert
An einem lauten Winterbach
Durft einer die Trommel schlagen
Da ward er nicht vernommen, ach.
Da war auch eine Liebe.
Sie war zwölf, er war fünfzehn Jahr.
In einem zerschossenen Hofe
Kämmte sie ihm sein Haar.
Die Liebe konnt nicht bestehen
Es kam zu grosse Kält:
Wie sollen die Bäumchen blühen
Wenn so viel Schnee drauf fällt?
Da war auch ein Krieg
Denn es gab noch eine andre Kinderschar
Und der Krieg ging nur zu Ende
Weil er sinnlos war.
Doch als der Krieg noch raste
Um ein zerschossenes Bahnwärterhaus
Da ging, wie es heisst, der einen Partei
Plötzlich das Essen aus.
Und als die andre Partei das erfuhr
Da schickte sie aus einen Mann
Mit einem Sack Kartoffeln, weil
Man ohne Essen nicht kämpfen kann.
Da war auch ein Gericht
Und brannten zwei Kerzenlichter
Und war ein peinliches Verhör.
Verurteilt wurde der Richter.
Da war auch eine Hilfe
(Hilfe hat nie geschadet)
Eine Dienstmagd hat ihnen gezeigt
Wie man ein Kleines badet.
Sie hatte leider nur zwei Stunden
Ihnen beizubringen
Musste ihrer Herrschaft
Die Betten nachbringen.
Da war auch ein Begräbnis
Eines Jungen mit sammtenem Kragen
Der wurde von zwei Deutschen
Und zwei Polen zu Grabe getragen.
Protestant, Katholik und Nazi war da
Ihn der Erde einzuhändigen
Und zum Schluss sprach ein kleiner Sozialist
Von der Zukunft der Lebendigen.
So gab es Glaube und Hoffnung
Nur nicht Fleisch und Brot
Und keiner schelt sie mir, wenn sie was stahl'n
Der ihnen nicht Essen bot.
Und keiner schelt mir den armen Mann
Der sie nicht zu Tische lud:
Gleich ein halbes Hundert, da handelt es sich
Um Mehl, nicht um Opfermut.
Findet man zwei oder sogar drei
Tut man gern dafür
Aber wenn es so viele sind
Schliesst man seine Tür.
In einem zerschossenen Bauernhof
Haben sie Mehl gefunden.
Eine Elfjährige band sich die Schürze um
Und backte sieben Stunden.
Der Teig war gut gerühret
Das Feuerholz gut gehackt
Das Brot is [sic] nicht aufgegangen
Sie wussten nicht, wie man Brot backt.
Sie zogen vornehmlich nach Süden.
Süden ist, wo die Sonn
Mittags um zwölf Uhr steht
Gradaus davon.
Sie fanden zwar einen Soldaten
Verwundet im Tannengries.
Sie pflegten ihn sieben Tage
Damit er den Weg ihnen wies.
Er sagte ihnen: Nach Bilgoray!
Muss stark gefiebert haben
Und starb ihnen weg am achten Tag.
Sie haben auch ihn begraben.
Und da gab es ja Wegweiser
Wenn auch von Schnee verweht
Nur zeigten sie nicht mehr die Richtung an
Sondern waren umgedreht.
Das war nicht etwa ein grausamer Spass
Sondern aus militärischen Gründen.
Und als sie suchten Bilgoray
Konnten sie es nicht finden.
Sie standen um ihren Führer
Der sah in die Schneeluft hinein
Und deutete mit der kleinen Hand
Und sagte: es muss dort sein.
Einmal, nachts, sahen sie ein Feuer
Da gingen sie nicht hin.
Einmal rollten drei Tanks vorbei
Da waren Menschen drin.
Einmal kamen sie an eine Stadt
Da machten sie einen Bogen.
Bis sie daran vorüber waren
Sind sie nur nachts weitergezogen.
Wo einst das südöstliche Polen war
Bei starkem Schneewehn
Hat man die fünfundfünfzig
Zuletzt gesehn.
Wenn ich die Augen schliesse
Seh ich sie wandern
Von einem zerschossenen Baauerngehöft
Zu einem zerschossenen andern.
Über ihnen, in den Wolken oben
Seh ich andre Züge, neue, grosse!
Mühsam wandern gegen kalte Winde
Heimatlose, Richtunglose.
Suchend nach dem Land mit Frieden
Ohne Donner, ohne Feuer
Nicht wie das, aus dem sie kommen,
Und der Zug wird ungeheuer.
Und er scheint mir durch den Dämmer
Bald schon gar nicht mehr derselbe:
Andere Gesichtlein seh ich,
Spanische, französische, gelbe!
In Polen, in jenem Januar
Wurde ein Hund gefangen
Der hatte um seinen mageren Hals
Eine Tafel aus Pappe hangen.
Darauf stand: BITTE UM HILFE!
WIR WISSEN DEN WEG NICHT MEHR.
WIR SIND FÜNFUNDFÜNFZIG,
DER HUND FÜHRT EUCH HER.
WENN IHR NICHT KOMMEN KÖNNT
JAGT IHN WEG!
SCHIESST NICHT AUF IHN
NUR ER WEISS DEN FLECK.
Die Schrift war eine Kinderhand.
Bauern haben sie gelesen.
Seitdem sind eineinhalb Jahre um.
Der Hund ist verhungert gewesen.
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